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Gute Entwicklung

Statement der Ökumenischen Flüchtlingshilfe Oberstadt e.V. (ÖFO) der Ökumenischen Flüchtlingshilfe Oberstadt e.V. (ÖFO) als Trägerin einer Promotorenstelle im Rahmen des Entwicklungspolitischen Landesnetzwerks Rheinland-Pfalz


Verfasser: Univ.-prof. i.R. Dr. Franz Hamburger


Entwicklungspolitische Bildungsarbeit im Zusammenhang von Migration und Integration. Die beiden Globalthemen Migration und Entwicklung bilden einen Überschneidungsbereich, der in der Aktivität der ÖFO als Trägerin einer Promotorenstelle im Rahmen des von ELAN verantworteten Promotor*innen Programm in RLP besondere Perspektiven eröffnet.


1. Allgemeines

Grundlegend ist dabei, dass es um Bildungsprozesse geht, die ein weites Feld von allgemeinen Themen der binnengesellschaftlichen und globalen Dynamik erfassen, aber auch individuelle Handlungsmöglichkeiten einschließen. Die individuellen und gruppenbezogenen Handlungsmöglichkeiten sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig, denn Migranten und Einheimische verhalten sich immer auch konkret im Themenfeld, nehmen es wahr oder nicht, beeinflussen konkrete Projekte und denken über das nach, was sie gerne tun und erreichen möchten. Deshalb werden die an Bildungsprozessen Beteiligten nicht als Adressat einer Seite, und zwar derer, die Bildung anbieten, definiert, sondern als miteinander in ihrer gemeinsamen Welt verwoben Handelnde.

Aus dem allgemeinen Verständnis von Bildung ergibt sich gleichzeitig, dass Bildung als ein höchst subjektiver Prozess verstanden werden kann. Niemand bildet einen anderen, sondern immer nur sich selbst. Bildung ist ein unabgeschlossener Prozess und bezieht sich auf die Aneignung der Welt, wie sie vom Subjekt verstanden werden kann und wie dieses sich im Prozess der Aneignung von Welt herausbildet und Handlungsfähigkeit erwirbt. Bildung umfasst dabei die ganze Person.

Den Schwerpunkt auf die entwicklungspolitische Bildung und nicht auf die Entwicklungspolitik zu legen, schafft einen weiteren Raum für Information und Reflexion, für Handlungserprobung und Verantwortungsübernahme als bei der Entscheidung für entwicklungspolitische Strategien und der Verantwortungsübernahme für ausgewählte Strategien möglich ist. Bildung zielt nicht unmittelbar und instrumentell auf ein bestimmtes Handeln ab, denn im Handeln werden immer andere Handlungsmöglichkeiten praktisch ausgeschlossen. Auch solche Prozesse zu beachten ist Aufgabe der Bildung. Bildungsprozesse sind also handlungsbezogen, lassen aber dem Individuum einen gewissen Spielraum. Niemand soll vereinnahmt werden.


2. Entwicklung als übergreifendes Konzept

In traditionellen Vorstellungen zur Entwicklung (von der Entwicklungspsychologie und ähnlichen Themenfeldern, die sich mit Entwicklung befassen, wird hier abgesehen) ist in der Regel eine Vorstellung von Entwicklung als globaler Modernisierung leitend. Diese werden zwar menschenrechtlich fundiert, in die Konkretisierungen fließen aber explizit oder implizit die Elemente modernisierter Gesellschaften „des Westens“ ein. Dort, wo traditionelle Gesellschaften nach ihrer eigenen Logik erhalten bleiben sollen, ist der Begriff der Entwicklung fehl am Platz, denn er kann sich grundsätzlich nicht davon lösen, dass er eine moderne Vorstellung ist - ab wann auch immer Modernisierung angesetzt wird. Außerdem kann er nicht davon abgelöst werden, dass er als Konzept grundsätzlich von außen kommt und nicht von den gesellschaftlichen Inseln, um die es in einem solchen Fall von „Entwicklung“ geht.

Wenn man sich aber von der Vorstellung von Entwicklung löst, dass der eine den anderen entwickelt bzw. ihm Vorgaben (IWF, WTO und Weltbank) für seine Entwicklung macht oder gar abwickelt, dann wird Entwicklung als Prozess verstanden, der von allen beteiligten Seiten her beeinflusst wird. Notwendig ist die Komplementarität, damit jeder sich in seiner wechselseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung begreifen kann. Entwicklung bezieht sich dann einerseits auf global definierte Relevanzen, in der Vorstellung von Partnerschaft und Selbstbestimmung auf die Unhintergehbarkeit der je eigenen Tätigkeit. In der Agenda 2030, den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung sind solche Vorstellungen festgehalten und als Orientierungsnorm definiert. Darauf muss man sich immer wieder beziehen.


3. Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft

Bildungsarbeit bezieht sich auf diesen Rahmen, findet aber in je konkreten Situationen mit den dabei beteiligten Personen statt. Doch die Prinzipien der Entwicklungsdefinition gelten auch für die Organisation und Gestaltung von Bildung, Bildungsangeboten und Veranstaltungen. Die beteiligten Personen und Personengruppen bringen ihre Vorstellungen ein und arbeiten sich aneinander ab bei der Tätigkeit, sich die Anforderungen der globalen Entwicklung anzueignen. Sie bringen dabei auch ihre Vorstellungen für die Entwicklung des je eigenen und des anderen Handlungszusammenhangs ein.

Wenn man dies in die übliche Ausdrucksweise bringt, bedeutet es: Einheimische und Zugewanderte sprechen über Entwicklungsnotwendigkeiten des gemeinsamen Landes, in dem sie jetzt leben, über die Entwicklung des Herkunftslandes, den globalen Zusammenhang als auch die Kultur des Einwanderungslandes. Dabei zeigt sich als Erstes, dass die hier verwendete Unterscheidung hinfällig ist, denn die Einheimischen sind die, die „vorher“ eingewandert sind und deren Nachfahren. Denn wenn man beispielsweise die nach 1945 großen Wanderungsbewegungen berücksichtig, die Zuwanderung von 12 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Krieg, die Zuwanderung von 14 Millionen Gastarbeiter ab 1955, von denen 11 Millionen vorläufig zurückgewandert sind, und die anhaltenden Flüchtlingsbewegungen (aus Ungarn über den Bürgerkrieg in Jugoslawien und in Syrien bis hin zum Krieg in der Ukraine) und die permanente Arbeits- und Studienmigration im europäischen Raum, dann ist die Unterscheidung sehr unbrauchbar. Lediglich Gruppen, die kürzlich gekommen sind, lassen sich von Gruppen unterscheiden, die vor längerer Zeit eingewandert sind. In diesem Sinne ist die Gesellschaft post-migrantisch und wird es jeden Tag mit der Zuwanderung von Personen und Gruppen mehr. Der Begriff richtet die Aufmerksamkeit auf die notwendige Gestaltung von Einwanderungsgesellschaften.

In der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit arbeiten nun alle Gruppen und Individuen gemeinsam an den entwicklungspolitischen Zielen und beziehen deren Ansprüche auf die eigene gemeinsame Lebenssituation. Auch wenn im Einzelnen dabei konkrete Aufgaben gefunden werden, die in den entwicklungspolitischen Zielen nur am Rande erfasst sind (beispielsweise Diskriminierungsvermeidung und -kritik, Angleichung der Rechtspositionen), so ergeben die 17 Ziele doch hinreichendes Material für den Bildungsprozess und Konsequenzen für konkrete Aktivitäten her.


4. Flucht- und andere Migrationsursachen

Die eingewanderten Personen sind individuelle Experten für die Aufklärung über Ursachen ihrer eigenen Flucht und Migration. Die Verschiedenheit der Situationen, die zur Mobilität veranlassen, und die Verschiedenheit der individuellen Entscheidung und Bewältigung der Flucht und Migration eröffnet in jedem Bildungsgespräch ein Panoptikum, ein unüberschaubares Feld von Ursachen, Bedingungen, Motiven und Erfahrungen. Sie erschließen menschliche Handlungsmöglichkeiten wie auch Zwänge und gesellschaftliche Notlagen. Sie in dieser Verschiedenheit zu verstehen und in ihrer Gemeinsamkeit zu ergründen ist wesentlicher Bestandteil von Bildungsprozessen.

Die verschiedenen Gruppen von Einwanderern sind in unterschiedlicher Weise mit ihrem Herkunftsland verbunden, haben aktive Beziehungen, unterstützen ihre zurückgebliebenen Familien oder werden von dort unterstützt, möchten mit dem Herkunftskontext nichts mehr zu tun haben oder arbeiten eingegangene Verpflichtungen ab usw. Diese je besondere Art der Beziehung bestimmt in hohem Maße die persönliche Sicht auf Herkunft und Zukunft und wird immer schon persönlich-privat oder kommunitär-gemeinschaftlich („communities“) bearbeitet. Die Verschiedenheit dieser Befindlichkeiten, die die Ausgangssituation einer jeden Bildungsarbeit beeinflussen, ist Chance, mehr noch aber auch Blockierung gemeinsamer Bildungsanstrengungen. Aber sie können mit konkreten Folgerungen verbunden sein, ermöglichen sie doch Einsichten über die Verflechtungen in der Welt und Notwendigkeiten, diese entwicklungsfördernd zu nutzen.

Von einem sachlichen Ausgangspunkt her ist der Umstand bedeutsam, dass die Rimessen (insbesondere Auslandsüberweisungen von Migrant*innen in ihre Herkunftsländer) global gesehen einen wichtigen Teil der Wertschöpfung in verschiedenen Ländern ausmachen. So sind sie mehr als doppelt so umfangreich wie weltweit an Entwicklungshilfe überwiesen wird.


5. Entwicklung der postmigrantischen Gesellschaft

Ebenso ist die Konfrontation der länger schon oder gerade einheimisch Gewordenen mit dem Sachverhalt der erwünschten oder auferlegten oder abgewehrten Zuwanderung ein Thema, das ebenso ein Kaleidoskop von unterschiedlichen Erfahrungen und Wirklichkeitsdefinitionen erschließt. An diesen Themen zu arbeiten ist ein Beitrag zum Entwicklungsprozess der postmigrantischen Gesellschaft, die modern, aber in-perfekt ist.

Die gerade Zugewanderten erfahren in der Regel sowohl die enormen Leistungsfähigkeiten der Einwanderungsländer, deren fortgeschrittene Ökonomie und moderne Infrastruktur umfangreiche Hilfe zu organisieren ermöglichen, als auch die Blockierung durch Ethnozentrismus und Diskreditierung im sozialen Umgang miteinander. Diese Attitüden werden nun nicht nur bei den „Alteingesessenen“ erlebt, sondern auch bei allen Gruppen der Gesellschaft, – wie sie auch in allen Gruppen reflektiert und abgebaut werden können.

Dazu leistet die entwicklungspolitische Bildung einen Beitrag.


6. Themen

Die Ökumenische Flüchtlingshilfe Oberstadt baut als ihren Beitrag für die Realisierung dieses Programms eine Initiativgruppe auf, die sich sowohl der internen Bildungsarbeit als auch der Aktivierung der Teilnehmer: innen von Bildungsangeboten der ÖFO (Sprachkurse usw.) widmet. Grundlage für die Bildungsarbeit dieser Initiativgruppe, die auch als Multiplikator*in für das regionale Umfeld wirkt, ist die Agenda 2030 mit den 17 entwicklungspolitischen Zielen.

Als Schwerpunkte für die Aufbauphase sind einige Themen ausgewählt worden. Sie werden aber nicht vorgängig festgelegt, sondern am Anfang der Bildungsarbeit in den thematischen Interessen der Teilnehmenden gespiegelt und dann gemeinsam festgelegt. Folgende Fragestellungen könnten zum Beispiel von den Beteiligten bearbeitet werden:

1. Entwicklung – Entwicklungspolitik- entwicklungspolitische Bildung. Eine begriffliche Orientierung

2. Was bedeutet Entwicklung für den Ort, aus dem ich komme? Geflüchtete Menschen erzählen über ihre Herkunftsregion.

3. Was bedeutet Entwicklung für die Region, in der ich lebe? Alle Teilnehmer*innen reflektieren über ihren gegenwärtigen Lebensort.

4. Was verbindet die Herkunftsregionen mit den gegenwärtigen Orten des Lebens?

5. Welche Chancen und Widerstände zur weiteren Entwicklung gibt es für „hier“ wie „dort“?

6. Wie können wir unseren Bildungsprozess mit konkreten Handlungen verbinden?


7. Zusammenfassung

Die OECD hat neuerdings in einer Studie hervorgehoben, wie wichtig der Beitrag der Migration zur regionalen Entwicklung ist. Dabei bezieht sie sich nicht auf die armen, sondern auf die reichen Länder, in die hinein die Migration im Wesentlichen stattfindet (OECD, The Contribution of Migration to Regional Development, OECD Publishing, Paris 2022.DOI: https://doi.org/10.1787/a632e7b7-en). Dabei werden die tatsächlichen Potenziale der Migranten, gemessen an ihren formalen Qualifikationen, noch gar nicht vollständig genutzt. Migration ist ein Beitrag zur Entwicklung der Einwanderungsgesellschaft. Dieser Beitrag könnte also noch größer sein. Ihr Beitrag zur Entwicklung der Auswanderungsgesellschaft ist umstritten.

Die Anerkennung des Entwicklungsbeitrags der Migration versetzt die Migrant*innen in eine gleichwertige Position im Vergleich zu den „Einheimischen“ der gerade gewesenen Einwanderung. Dies ist eine Bedingung des Bildungsprozesses „auf Augenhöhe“. Thema der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit ist das breite Feld von der persönlichen Erfahrung der jeweils Anwesenden bis hin zu den inter- und transnationalen, wirtschaftlichen und politischen, kulturellen und ökologischen Zusammenhängen. Das leitende Prinzip der mündigen Selbstbestimmung gilt ebenso für die Entwicklung der beteiligten Personen wie für die globale Entwicklung der Staaten und Völker. Die Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit und der praktische Wille zur partnerschaftlichen Aktivität ist Ergebnis des Bildungsprozesses. Emphatisch gesprochen ist das die Alternative zum Krieg aller gegen alle.


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