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Syrien: so fern und doch so nah!

Aktualisiert: 21. Okt. 2020



Bericht über eine interessante Veranstaltung im Interkulturellen Bildungs- und Begegnungszentrum Oberstadt


von Dr. Karoline Pietrzik und Omar Alkhamees



Dr. Karoline Pietrzik hatte eingeladen und Omar Alkhamees, selbst aus Syrien geflüchtet, hielt einen Vortrag über sein Land. Land und Leute, Geschichte und Politik, Wirtschaft und Kultur – alle Aspekte dieses wunderschönen und doch vom Bürgerkrieg so zerstörten Land sollten zur Sprache kommen. Und auch deshalb, und weil der Vortrag so lebendig war, wurden viele Fragen vertieft und engagiert diskutiert. Es war erstaunlich, wie in kurzer Zeit Verständnis und informiertes

Omar Alkhamees Bewusstsein entstanden sind.

Im Jahr 2018 erreichte die Zahl der aus Syrien Geflüchteten in Deutschland 520.000 – ein weiterer Umstand, diese Veranstaltung durchzuführen, wobei sich ein großes Interesse die kulturellen Aspekte richtete. Zunächst gab Herr Alkhamees einen detaillierten Überblick über die verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften in Syrien. Menschen arabischer Herkunft bilden den größten Anteil an der Bevölkerung. Aber es leben auch viele Menschen kurdischer, turkmenischer, armenischer und circassianischer („kaukasischer“) Herkunft in Syrien.


Dementsprechend gibt es auch unterschiedliche Religionen; sie lebten Jahrhunderte lang in Frieden zusammen. Die Muslime machen 85% des syrischen Volkes aus. Die Christen sind die zweitgrößte Gruppierung mit 12%. Juden und einige weitere Religionen bilden die restlichen 3% der Bevölkerung. Zudem lassen sich die Muslime in unterschiedliche islamische Gruppierungen einteilen. So bilden die Sunniten den größten Teil, gefolgt von den Alawiten, Drusen, Schiiten, Ismailis und Murshidis.

Zu den christlichen Gruppierungen gehören die Christlich-Orthodoxen, gefolgt von den Syrisch-Orthodoxen, den Römisch-Katholischen und verschiedenen Gruppen von Protestanten. Des Weiteren bilden die Maroniten, die chaldäischen Assyrer, syrische Katholiken und Armenier einen kleineren Teil der Bevölkerung. Die Vielfalt der Ethnien und Religionen, die Wege des Miteinanders gefunden haben, ist ein Kennzeichen der syrischen Geschichte und Kultur.

Im Anschluss an diesen Überblick gab der Vortragende einen Einblick in die syrischen Familien- und Kommunikationsstrukturen. Die Gesellschaft Syriens kann als „kollektivistisch“ bezeichnet werden. In der syrischen Kultur spielt die Familie noch immer die Hauptrolle bei der Bildung und Erziehung des Individuums. Jedoch sinkt dieser Einfluss, je näher man den modernisierten Zentren des Landes kommt.

Auf dem Land ist eine Familie mit zehn Personen und mehr nicht unüblich, was mit der großen Bedeutung der Religion zusammenhängt, die eine hohe Kinderzahl fördert. Die „klassische“ Familienstruktur ist streng hierarchisch, mit dem Vater als Familienoberhaupt. In einigen Stammesgebieten ist die Familie meist in ein übergeordnetes Netz der jeweiligen „Großfamilie“ und der Verwandtschaft eingebettet. Die Anzahl der Stämme beläuft sich je nach Gebiet auf hunderte bis mehrere tausend.

Zudem ist es üblich, dass die Kinder selbst nach einer Heirat, mit ihren Eltern weiterhin zusammenleben und im Alter für Sie sorgen. Die Kommunikation innerhalb der Familie ist sehr ausgeprägt, was üblich für arabische Gesellschaften ist. So trifft man sich nahezu täglich, um über aktuelle Themen des Einzelnen, aber auch der Familie zu sprechen.


Probleme werden meist nicht direkt angesprochen, sondern indirekt in einer teilweise übertrieben höflichen Form. Das kann auch zu Konflikten führen, denn diese Art der Kommunikation führt nicht immer zur Problemlösung.

Politisch hat Syrien 1947 die Unabhängigkeit von der französischen Besatzungsmacht erlangt. Anschließend kam eine politisch instabile Zeit mit diversen Putschversuchen, welche 1970 mit dem erfolgreichen Militärputsch von Hafez al-Assad endete. Hafez al-Assad ist der Vater des momentan regierenden Diktators Baschar al-Assad. Die republikanische Verfassung sah vor, dass der Präsidentschaftsanwärter mindestens 40 Jahre alt sein müsse; doch hat die Regierung die Verfassung geändert, damit Bashar al-Assad mit 37 Jahren die Nachfolge seines Vaters antreten konnte. Zudem war eine Änderung notwendig, um die Weitergabe des Präsidentenamtes durch Erbschaft rechtlich zu legitimieren.


Der junge Diktator erbte einen Polizeistaat. Dementsprechend groß war der Einfluss des Militärs, und die Geheimdienste und Sicherheitsbehörden gingen rigoros gegen Dissidenten vor. Des Weiteren war das gesamte System von Korruption geprägt, welche in alle Teilbereiche der Gesellschaft hinein reichte und für alle sichtbar war.

Obwohl Bashar al-Assad das Land ein wenig öffnete, unterschied sich die Präsidentschaft des Sohnes zu der des Vaters nahezu ausschließlich durch formale und kosmetische Änderungen, die weit von den vom Volk geforderten Reformen entfernt waren. Der politische und internationale Druck durch die Destabilisierung des Nahen Osten und der arabische Frühling bestärkten die Bemühungen des Regimes, den Machterhalt mit allen Mitteln zu verteidigen. Dies zeigte sich in einer Politik der systematischen Unterdrückung, des öffentlichen Wahlbetrugs und der weit verbreiteten Korruption in Institutionen der Regierung, des Parlaments und der Justiz. Alles diente dem Ziel des Machterhalts des Diktators Bashar al-Assad, seiner Familie und seiner Anhänger.


Hinzu kamen der Autoritarismus und die Unterdrückung vieler Freiheiten. Das führte zu einer zu einer Akkumulation der Wut in der Bevölkerung, die sich gegen das Regime richtete und sich letzten Endes in einer Revolution entlud. Außerdem trugen die Destabilisierung des Nahen Osten und weitere internationale Faktoren dazu bei, dass sich die Stimmung im Land stark veränderte.

Natürlich können die vielfältigen Ursachen für diese Dynamik nicht vollständig dargestellt werden. Nur die Funken, die das Pulverfass zur Explosion brachten, sollen erwähnt werden. Die regionale Situation war bestimmt vom arabischen Frühling. So gelang es dem tunesischen Volk, das diktatorische Regime Ben Alis durch eine massive Volksrevolution zu stürzen. Gleiches gelang dem ägyptischen Volk gegen den Diktator Mubarak. Dies hat den arabischen Ländern in ähnlicher politischer Situation Hoffnung gegeben, es Tunesien, Ägypten und Libyen gleichzutun und sich ebenfalls vom diktatorischen Regime zu befreien.


So reichte bereits ein einziger Satz „Du bist dran, Doktor“ (eine Anspielung auf den arabischen Frühling und die ehemalige Karriere Bashar al-Assad’s), geschrieben von fünf Jugendlichen im Alter von 14-15 Jahren auf die Wand ihrer Schule in Daraa, aus, um eine Revolution und mit ihr einen der blutigsten Bürgerkriege der Moderne auszulösen. Daraa liegt in der Region Daraa Albalad, welche sich im äußersten Süden Syriens an der Jordanisch-Syrischen Grenze befindet. Die Jugendlichen, inspiriert von den Erfolgen des arabischen Frühlings, forderten mit ihren Graffiti das Regime auf zurückzutreten und übten offen Kritik an Bashar al-Assad, was staatlich verboten war. So dauerte es nicht lange, bis die Jugendlichen in eine Haftanstalt der Geheimdienstabteilung, unter der Leitung von Atef Najib (Cousin von Präsident Bashar al-Assad), gebracht wurden, wo man sie wochenlang auf grausame Art und Weise folterte. Nach ca. 15 Tagen bildete sich eine Delegation aus den Eltern der Jugendlichen und prominenten religiösen und sozialen Persönlichkeiten, um sich mit dem Leiter der Geheimdienstabteilung in Daraa Atef Najib zu treffen, in der Hoffnung, er ließe die Jugendlichen frei. Dieser antwortete mit den Worten, sie sollten die Kinder vergessen und neue Kinder zeugen, die den Führer Assad liebten. Daraufhin begannen in Daraa die ersten Demonstrationen, die zunächst die Freilassung der Jugendlichen forderten. Die Antwort des Regimes war die blutige Niederschlagung der Demonstrationen, was jedoch zu weiteren Demonstrationen führte, welche nach und nach nicht mehr nur die Freilassung forderten, sondern auch den Sturz des Regimes. Diese Demonstrationen verbreiteten sich innerhalb weniger Wochen wie ein Lauffeuer über ganz Syrien und waren somit der Auslöser des bis heute andauernden Bürgerkriegs. Die fürchterlichen Folgen sind über eine Million Tote, neun Millionen Geflüchtete und verheerende Verwüstungen des Landes. So zahlt das syrische Volk bis heute einen hohen Preis für seine Freiheit. Auch wenn die Zeit des Sonnenuntergangs lang ist, so wird der Tag kommen, an dem die Sonne am Horizont aufgeht, um den Beginn der Freiheit des syrischen Volkes anzukündigen.

Zum Abschluss der Veranstaltung ging Omar Alkhamees noch auf die Rolle der Poesie in der syrischen Kultur ein. Sie hat bis heute soziale, politische und religiöse Auswirkungen und ist ein wichtiger Faktor zum Erhalt der Sprache.

Zudem trug er zwei selbstgeschriebene Gedichte auf Arabisch vor mit den Titeln „Der Gesang der Freiheit“ und „Die Liebe scheint aus deinen Augen“, in denen er sich mit der syrischen Revolution und dem Freiheitskampf des Volkes auseinandersetzt.

Es zeigte sich bei dieser Veranstaltung im IBBO wieder einmal, wie der Bericht einer Person, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen erzählt und zugleich ein differenziertes Wissen über ihr Thema hat, beeindruckt und zu einem tiefen interkulturellen Verständnis beiträgt.


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